Michael Witlatschils erste Einzelausstellung
im Museum findet in Mönchengladbach statt. Es ist nicht
einfach, die Labilität seiner Kunstwerke in einem Museum
zu rechtfertigen. Diese grazilen Monumente müssen umgrenzt
werden, damit man sie nicht berührt. Als Noli-me-tangere,
als Mimosen stehen sie jeder haptischen Inbesitznahme entgegen.
Sie strahlen nicht nur Gefährdung aus, sie sind es. Und
dennoch strahlen sie, Distanz gebietend, einen besonderen
Reiz, eine magische Präsenz aus.
Sie scheinen gegen die natürliche Schwerkraft zu stehen.
Ihre Aufstellung nimmt der Künstler selbst vor. Der komplizierte
Balanceakt des Aufbaus wird als Handlungsprozeß ein
Ritual, das zum Bestandteil der Plastik gehört.
Mit Geduld, Fingerspitzengefühl und seiner empirischen
Erfahrung richtet Witlatschil in höchster Konzentration
seine eigenständigen, abstrakten Figuren auf. Auf die
Spitze getrieben in Proportion und Stand, widerstreben sie
scheinbar jedem natürlichen Empfinden, ergeben ein sehr
labil wirkendes, doch statisches Gleichgewicht. Diese Aufführung
lässt vor den Augen der Betrachter Skulpturen erstehen,
die so die Kenntnis ihrer Gefährdetheit vermitteln und
den Betrachter zum mitempfindenden und mitreflektierenden
Teilnehmer werden lassen.
Nicht nur der physikalische Bezug zum Raum und zur Plastik
wird erfahren, sondern auch ein bewußtseinsmäßig
erregendes Erlebnis im Verhältnis zur eigenen Existenz,
vergleichbar mit Friedrich Nietzsches Bild des Menschen als
Seil, als Seil über dem Abgrund, wie er ihn in seinem
Zarathustra beschreibt: "ein gefährliches Hinüber,
ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches
Zurückblicken, ein gefährliches Schauern - und Stehenbleiben."
Michael Witlatschil ist ein Erbauer, Errichter
seiner Werke. Schon der Arbeitstitel »Stand« für
diese Objekte zeigt es. »Stand 14« von 1983 ist
als ein Ablauf im Katalog aufgenommen (siehe Abbildungen).
Eine massive, runde Metallsäule, etwas über lebensgroß,
ist an beiden Enden schräg angeschnitten. Sie ist mit
einer Hand zu umfassen. Solange sie am Boden liegt, bleibt
sie unbedeutend, gleicht irgendeinem beliebigen Gebrauchsgegenstand.
In diesem Ruhezustand wird sie von zwei untergelegten Holzklötzchen
geschützt. Denn jede Verletzung, jede Kerbe könnte
schwerwiegende Folgen haben. Ein zweites Klötzchen gewährleistet
ein erstes Abstellen. Ein Stück Spiegelglasscherbe liegt
am endgültigen Ort der Aufrichtung. Dann tritt der Künstler
in Aktion. Konzentriert, wie ein Artist vor einem Drahtseilakt,
nimmt er die Herausforderung des Materials an. Er stellt die
Säule auf, zwingt der Materie seinen Willen auf. Es ist
ein Kampf gegen die Trägheit der Masse. Die auf der Spitze
stehende Säule muss noch gedreht und ausponderiert werden,
bis sie dann plötzlich, wie von Geisterhand gehalten,
steht, alleine steht. Kein Faden, keine eingerastete Verankerung,
keine Halterung, die Säule steht frei für sich,
zuerst nur für einen Augenblick, doch dann auch auf Dauer.
Der untergelegte kleine Spiegel unterstreicht schließlich
vollends den Schwebezustand des Erscheinungsbildes.
Eine klare, einfache Form, in scheinbarer Überwindung
von Naturgesetzen steht vor uns wie ein Wunder, schafft eine
Verbindung zwischen Boden und Luft, zwischen Himmel und Erde.
Erhaben steht das Kunstwerk da, eine formgewordene Utopie,
ungewöhnlich, doch exemplarisch.
"Nicht der Masse qualvoll abgerungen / schlank und leicht,
wie aus dem Nichts gesprungen ... Alle Zweifel, alle Kämpfe
schweigen / in des Sieges hoher Sicherheit / ausgestoßen
hat es jeden Zeugen / menschlicher Bedürftigkeit."
(Friedrich Schiller, aus: Das Ideal und das Leben)
»Stand 5« von 1980 / 81 besteht aus zwei lose
ineinander gesteckten Teilen: Die gleiche Herausforderung,
auch sie muss stehen, auf der Spitze stehen (siehe Abbildungen).
Der Rumpf besteht aus einem flügelig aufgeklappten Doppelrhombus,
der oben eingekerbt ist zur Aufnahme einer quadratischen Glasscheibe.
Sie wird eingesteckt, bevor der Körper aufgehoben wird.
Eine dreieckige Scheibe, von Keilen unterlegt, ist die Basis
für die Figur. Neben der Unhandlichkeit der Metallstücke
liegt hier die Schwierigkeit der Aufstellung darin, dass die
eingesteckte Glasscheibe über ihren Schwerpunkt hinweg
gehoben werden muss. Von einem anfänglichen Druck auf
das obere Ende des Rhombus verlagert sich das Gewicht im Verlauf
der Aufrichtung auf die untere Hälfte. Diese Aufstellung
ist weitaus schwieriger als bei »Stand 14«. Man
könnte im Anblick der Abbildungen an einen Kampf Jakobs
mit dem Engel denken.
Auch hier das verblüffende Endresultat, eine große
ausladende Skulptur steht auf einem Punkt, nicht größer
als ein halber Fingernagel. Ihr eigenes Gewicht konzentriert
sich auf ein Minimum, breitet sich kopflastig nach oben hin
aus. In einer Manifestation der Möglichkeiten werden
mit dieser Skulptur die Grenzen des Machbaren ausgelotet.
Unsere Vorstellungskraft komplettierend steht sie ehrfurchtgebietend
in ihrer Labilität, die doch in sich stabil ist.
Mühevolle, diffizile Kleinarbeit geht dieser auf einen
Punkt gebrachten Definition voraus. Sie ist nicht mathematisch
errechnet, sondern ausprobiert, durch ständiges Zurechtbiegen,
Abfeilen, Ausrichten empirisch erfasst. Am Ende steht auch
hier die klare Form vor uns, ohne Vortäuschung falscher
Tatsachen, ohne Tricks, trotzdem an Zauberei grenzend.
Wie bei einer Photographie hält die Momentaufnahme der
Dauer stand, perpetuiert sich der kaum fassbare Augenblick.
Ein Problem der Bildhauerei war von jeher das Abwägen
von Masse gegen Last. Ruhe und Stabilität auszudrücken
war Anliegen aller sogenannten klassischen Stile. Die manieristischen
Stile erfreuten sich eher an deren Umkehrung, in einer Art
Weltanschauungskorrektur, in einem Ausloten dessen, was außerhalb
der Normen noch möglich war. (Das Pferd des kühnen
Reiters, das nur auf den Hinterbeinen stand, musste allerdings
noch wie von ungefähr durch einen Baumstumpf gestützt
werden.) Dieses Sonderprogramm drückt sich später
im Begriff zum Beispiel auch des »Sur«-realismus
aus, das weniger ein ästhetisches als mehr ein weltanschauliches,
ein literarisches war: Ein Ereignis der Geistesgeschichte.
Der Surrealismus empfing seine Impulse aus der Gedankenarbeit.
Die Überraschung, die Unwahrscheinlichkeit war sein Programm.
Mit seinen zugespitzten Formulierungen nimmt Witlatschil vieles
davon auf. Er betritt innerhalb der modernen Kunst einen schmalen,
doch logischen und begehbaren Grat: alles lässt sich
auf die Spitze stellen. Mit der Ausgrenzung der bisherigen
empirischen Gesetze werden neue Bedingungen bereitgestellt,
die das menschliche Ermessen erweitern, doch auch Angst einflößen
können. Die Figuren Witlatschils schaffen eine Aura,
beschwören den nie aufgelösten Konflikt, dem einst
Orpheus und Eurydike zum Opfer fielen: dass das Haben, der
Besitz, nur durch Verzicht (des Begreifens) dauerhaft wird.
Wer sich die Vergewisserung durch Berühren verschaffen
will, hat alles verloren und zerstört.
Im Gegensatz zum Surrealismus ist die Auffassung Witlatschils
nicht eine Bankrotterklärung an die Vernunft, wie sie
zum Beispiel die Dadaisten pflegten, sondern ihre Herausforderung.
Nicht ihre Absage, sondern die Erkenntnis extremer Möglichkeiten
höchster Organisation als Instrument der Bewusstmachung.
Freilich entsteht hier eine »künstliche«
Kunst. In diamantener Härte, in Kälte und Fremdheit
kulminiert hier die Logik des gerade noch Machbaren, unzugänglich
und abweisend. Ein Ausbruch aus dem Bereich der Lebensroutine,
eine Entscheidung für eine grenzüberschreitende
Normalität ein -accent aigu«.
Zwischen Abweisung und Anziehung, zwischen Schwere und Leichtigkeit,
zwischen Helligkeit und Dunkel, zwischen Distanz und Beziehung,
zwischen Offenheit und Verschlossenheit nehmen diese beiden
Plastiken ein Zwiegspräch auf. Michael Witlatschil hat
für diese Konfiguration in Mönchengladbach ein Thema
aus der christlichen Ikonographie gewählt: Annunziazione,
Verkündigung. Damit gesellt sich zur Wahrnehmung das
Bild, wird die geheimnisvolle Aura des Sakralen direkt benannt.
Kein Künstler arbeitet ohne bewusste oder unbewusste
Rückgriffe auf die Tradition. Als Witlatschil in Italien
lebte, haben ihn die Verkündigungsszenen zum Beispiel
eines Fra Filippo Lippi, eines Domenico Ghirlandaio und Leonardo
da Vinci beeindruckt. So ergab sich für ihn eine neue
Interpretation aus dieser Zusammenstellung. Denn immer noch
bestimme, so meint er, die christliche und antike Tradition
wesentlich unser Weltbild, bis heute. Mit der Assoziation,
mit der Rückkoppelung, der Anbindung, erweitert sich
das Gesehene im Bewusstsein zu einer höheren Realität.
Heterogene Gegenstände vereinen sich plötzlich zu
einer Melodie, zu einem Gedicht, wie es bei August Stramm
in seinem nebenstehenden Gedicht zum Ausdruck kommt.
Der gefundene Titel für die beiden Arbeiten ist eine
Projektion, eine induktive Interpretation, wie wir sie von
Sternbildern kennen. Auch dort sind einzelne zerstreute Lichtpunkte
zu Konfigurationen zusammengefasst worden, die der Geist des
Menschen erfand, und die ihn beflügelten. So hat von
jeher der Mensch seine Hoffnungen, seinen Glauben in alles
hineinprojiziert, was sich ihm nur entfernt zu einer Identifikation
anbot. Und je weiter wir in die Geschichte und Vorgeschichte
zurückgehen, um so wichtiger scheinen diese suggestiven
Inhalte zu werden. Auch heute leben unterhalb unserer modernen
Geisteshaltung und unseres wissenschaftlichen Weltbildes die
alten magischen Vorstellungen in uns fort und können
unvermutet ans Tageslicht treten, sei es im Spiel oder im
Ernst. Wenn wir im Museum das Berühren der Gegenstände
verbieten, so dient diese Maßnahme nicht nur der Erhaltung
der Kunstwerke, sondern sie schafft auch Distanz, die mit
dazu beiträgt, dass die im Museum ausgestellten Werke
zur »Kunst« werden.
Raum
Zeit
Raum
Wegen
Regen
Richten
Raum
Zeit
Raum
Dehnen
Einen
Mehren
Raum
Zeit
Raum
Kehren
Wehren
Recken
Raum
Zeit
Raum
Ringen
Werfen
Würgen
Raum
Zeit
Raum
Fallen
Sinken
Stürzen
Raum
Zeit
Raum
Wirbeln
Raum
Zeit
Raum
Wirren
Raum
Zeit
Raum
Flirren
Raum
Zeit
Raum
Irren
Nichts.
August Stramm
Wenn Michael Witlatschil seine beiden Einzelstücke
»Stand 14« und »Stand 5« zu einer
Annunziazione zusammenfasst, so hat das nicht nur ikonographische
Auslösefunktion, sondern auch funktionale. Er schafft
damit einen räumlichen Zusammenhalt von zwei einzelnen
Gebilden. Wie weit man zwei Gestalten voneinander entfernen
kann und sie doch als zusammengehörig erfasst, war auch
schon im Mittelalter eine Fragestellung. So haben gerade die
plastischen Verkündigungsdarstellungen zum Beispiel im
Regensburger Dom die Distanz eines ganzen Mittelschiffes zu
überwinden vermocht: An einem Pfeiler steht Maria, an
dem gegenüberliegenden der Verkündigungsengel. Oder
im Gewände von Portalen wurden einst biblische Szenen
über die Türöffnung mit dem Mittelpfeiler verbunden,
zum Beispiel am Nordportal von Notre Dame in Paris: Am Mittelpfeiler
Madonna, im Gewände die anbetenden Könige. Auch
eine Kuppel und ein Turm einer Kirche bilden von den verschiedenen
Standpunkten in der Stadt (zum Beispiel St. Niklas auf der
Kleinseite in Prag) immer neue spielerisch zusammenfassbare
Ansichten. All das sind Themen, die mit Ikonographie wenig,
um so mehr aber mit Fragen von Distanz, Begegnung und Zusammengehörigkeit
zu tun haben.
Solange ein Steckenpferd in der Ecke steht, ist es nur ein
Stück Holz, sobald sich aber ein Kind draufsetzt, wird
es zum Brennpunkt der Phantasie, wird zum Fetisch und Kultgegenstand.
Ohne Projektion ist es nur ein nacktes Gerüst, ohne Sinn
und Bedeutung. Erst die suggestive Kraft dessen, der sich
damit auseinandersetzt, macht es lebendig. So erklärt
sich die Kunst als eine raffinierte Form der Magie, ein Appell
an die Phantasie des Beschauers. Die Schaffung einer solchen
Phantasiewelt führte zur Anerkennung eines eigenen Bereiches
der Kunst.
In dieser Überlagerung verschiedener Bezugssysteme, zusammen
mit einer äußersten Reduktion der Bildmittel entsteht
ein sinnbildhafter Aufbau, wird eine faszinierende Prägnanz,
Präzision und Intensität ersichtlich, denen Witlatschil
formal neue Aspekte hinzufügt.