Als die Ausstellung der Skulpturen von Michael Witlatschil
geplant wurde, die ursprünglich schon im Herbst 1984
stattfinden sollte, veranstaltete das Westfälische Landesmuseurn
eine Ausstellung der Zeichnungen von Auguste Rodin. Als wesentliches
plastisches Werk belegte die Skulptur des »Schreitenden«
die bildhauerische Genialität Rodins. Sie begleitete
die Ausstellung der Zeichnungen und gab zugleich den Hinweis
auf das Werk eines Bildhauers, der nach allgemeiner Auffassung
als Vollender der Bildhauerkunst des 19. Jahrhunderts gilt.
Wie modern, ja avantgardistisch allerdings gerade der »L'homme
qui marche» angesichts der auf Balance und Stand gerichteten
Arbeiten von Michael Witlatschil wirken würde, war im
Augenblick der Vorbereitung beider Ausstellungen nicht vorauszusehen.
Aus dem Vollender Rodin wurde im Blick der Nachgeborenen der
Wegbereiter, als welcher er schon die Ausstellung »Skulptur
77« angeführt hatte, der in der Abstraktion des
ursprünglich aus heterogenen Teilen zusammengesetzten
Torso des »Schreitenden« eine Bildsprache anklingen
ließ, die erst in der konzeptuellen und minimalisierenden
Kunst der sechziger bis achtziger Jahre wieder als Saat aufging
und ihre Fortführung und abstrakte Vollendung fand. Rodins
»Schreitender«, 1896/97 bzw. 1900 entstanden, macht
das Motiv des Schreitens und Stehens zugleich in einer auf
das Wesentliche reduzierten Weise sichtbar. Stand und Spielbein
sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, wie es der klassische
Kanon erfordert hätte. Die Last ist gleichmäßig
auf die tragenden Stützen des voluminösen und überdimensionierten
monumentalen Körpers verteilt. Schreiten ist hier ganz
im Diesseits als Funktion des Körpers und seiner Muskeln
erfaßt und gestaltet, sodaß der Gesamtheit der
Erscheinung nicht mehr die mimetische Funktion des Verweises
auf eine Handlung anhaftet: es ist eben kein >Johannes
der Täufer« gestaltet, dessen Vorbereitungsphase
die Skulptur sicherlich zuzuordnen ist, kein »ehernes
Zeitalter«, dessen ponderierendes Standmotiv hier überwunden
war, ist zur Erklärung des Motivs oder zu seiner Überhöhung
in den Bereich literarischer Bedeutung notwendig, sondern
allein das aufrechte Stehen im Einklang mit der vorwärtssehreitenden
Geste und der Raum, den der Schreitende sich damit erschließt,
sind Inhalt und Botschaft an die Nachgeborenen.
Brancusis »Vogel im Raum«, ab, 1927 in zahlreichen
Varianten entstanden, ist im Zusammenhang unserer Suche nach
Vorläufern der Gleichgewichtsskulpturen Michael Witlatschils
wie eine Einlösung des Versprechens zu sehen, das Rodin
mit seinem »Schreitenden« gab. Der blieb Mensch,
trotz seiner torsohaften Erscheinung (zum Schreiten brauche
man keinen Kopf und keine Arme, hat Rodin auf Vorhaltungen
erwidert), er verweist auf den Betrachter als Partner - er
Goliath, wir David -, aber er teilt mit uns den Standort,
den fast sockellosen Platz. Brancusis »Vogel im Raum«
aber steht und hebt zum Flug ab im gleichen wie versteinerten
Augenblick, ist ortsgebunden durch ein Minimum an Standfläche,
die ihm die Sicherheit des Abhebens und Aufwärtsstrebens
zu geben scheint, ist Form gewordenes Kürzel für
den Flug als Fortsetzung des Balanceaktes eines Standes im
freien Raum. Allem Abbildhaften bis auf einen allerletzten
Rest bildhafter Assoziation - eben Vogel, nicht Flug - entkleidet,
ist er trotzdem mehr Aufwärtsstreben, Abheben und Selbstbefreiung
als Vogel, mehr Idee des Fluges als Flugstudie, mehr im Licht
der Oberfläche - ob Marmor oder polierte Bronze - aufgelöste
Kraftlinie als gebaute Skulptur. Auf dem von Brancusi gestalteten
Sockel in die Augenhöhe des Betrachters gehoben und ihm
in den Blick gestellt, diesen aufwärts lenkend, ist diese
Vogel-Skulptur auf dem äußersten Grat der Abstraktion
angesiedelt, auf dem der Verweis auf den Anlaß, das
Vorbild, gerade noch erkennbar bleibt. In Brancusis rhythmisch
sich in das Unbegrenzte fortsetzenden »Unendlichen Säule«
(seit 1918 in zahlreichen Varianten unterschiedlicher Länge
erarbeitet) wirft er auch den letzten Ballast an Realitätserinnerung
zugunsten der idealen Form ab und schöpft dem Stand ein
abstraktes Gebilde, eine symbolische Form des aufrechten Stehens
und Aufwärtsstrebens.
Giacomettis stehende oder ausschreitende Figurinen scheinen
den Regeln des Gehens und Stehens wieder ohne Widerspruch
zu gehorchen, schreiten sie doch isoliert auf weiten Plätzen
aneinander vorbei (Platz von 1948/49, Die Waldlichtung, 1950,
Schreitender Mann im Regen, 1949 u. a.), den Raum um sich
mit der Aura ihrer materiell reduzierten Erscheinung erfüllend
und wenden sich, auf Plinten oder flachen Sockeln nur wenig
erhoben, aus dem Blick des Betrachters heraus. Sie erscheinen
als Einzelgänger, stehen auf ungeheuren Füßen
auf der ihnen angeglichenen Basis (Sieben Frauen für
Venedig, 1956, Schreitender Mann 11, 1960 u. a.). Die ganze
Kraft ihrer aufrechten Erscheinung ist in ihrem Stand verschmolzen,
aus der Gelagertheit des Sockels, von dem sie sich erheben,
ziehen sie die Kraft ihrer auf das Minimum des Körperlichen
reduzierten Erscheinung, in der sich alles an Gestalt verbirgt
und doch auch alles plastische Versprechen eingelöst
wird: Volumen, Bewegung, Gestik, Mimik.
Rodins »Schreitender« ist mit beiden Beinen, trotz
des weit ausholenden Schrittes, seinem Untergrund auf ganzer
Standfläche verhaftet, als schmiege nicht er sich der
Erde, sondern diese sich ihm an. Er tritt sie in herrisch
besitzergreifender Geste, die eben deshalb auch den >Besitzstand<
zeigt. Giacomettis Stehende und Schreitende aber sind mit
der Erde verwurzelt bzw. ihr verhaftet, sie finden ihren Standort
suchend und in der zaghaften Hoffnung, die Basis ihrer Existenz,
die Erde, aus der sie sichtbar auch gestaltet sind, nicht
zu verlieren.
Barnett Newmans »Here 1 (To Marcia)« von 1950 leugnet
im Gegensatz zu den bisher als Zeugen herangezogenen Werken
in der äußeren Form jeden Bezug auf die menschliche
Gestalt. Der Hinweis auf das »Ich« ist dem Titelzu
entnehmen. Die Höhe von 240 cm läßt einen
körperlichen Bezug zum Betrachter als sinnfällig
erscheinen. Die beiden senkrechten Bronzeleisten -die >malerisch<
breite und zu den Seiten leicht ausfransende zur Linken wird
rechts von einer gleichlangen, aber viel schmaleren, auch
handgearbeiteten, aber geglätteten, begleitet - stehen,
ihrem unterschiedlichen Volumen entsprechend, auf unterschiedlich
großen, zu kleinen Hügeln angehäuften Sockeln,
die in einer gemeinsamen flachen und erdig strukturierten
Plinte zusammenfinden. Die Herkunft dieser Arbeit aus der
Malerei ist offensichtlich; die Methode der außerordentlich
langsamen Gestaltwerdung aus reduzierter Materie/Farbe gegenüber
dem Umraum/der Fläche ist auch hier angewandt worden
und überträgt sich in Form des verantworteten Handelns
auf den empfindsamen Betrachter. »Ich« ist hier
Konzentrat existentieller Entscheidung, ist Ortsbestimmung
im Raum/vor der Fläche, ist Erscheinung in zweierlei
Gestalt, emotional die eine Hälfte, rational die andere,
beide voneinander nicht zu trennen, auf zwei Hügelchen,
aber auf gemeinsamer Plinte miteinander verbunden. >Zwei
Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.
In Andeutung und Verweisen, denen noch andere an die Seite
gestellt werden könnten, ist versucht worden, Bezüge
auf die Historie der Stand- und Balance-Skulpturen beispielhaft
vorzuführen. Die Erfindung des Künstlers ist aus
der Geschichte erwachsen. Michael Witlatschils Skulpturen
versetzen den Betrachter zumeist in ungläubiges Staunen
und veranlassen ihn meist, nach dem verborgenen Trick zu suchen,
den es aber nicht gibt. Die Labilität seiner ausbalancierten
Skulpturen, ihre potentielle Gefährlichkeit, die eine
Ausstellung seiner Werke immer wieder zu einem Wagnis werden
lassen, verführen den Betrachter dazu, die technischen
Besonderheiten und die Gefährdung auch durch die zarteste
Berührung als das Wesentliche, weil das Sensationelle
seiner Skulpturen anzusehen und sich dann mit dem Gefühl
der Erkenntnis der Überraschung zufriedenzugeben.
Die Sensation der Erscheinung ist aber nur ein Aspekt der
Skulpturen Witlatschils, die ihr Wesen ebenso in ihrer Körperlichkeit,
ihrer Dimensionierung und ihrer partnerschaftlichen Beziehung
zum Aufstellenden, der nicht unbedingt der Künstler sein
muß, evozieren, wie auch in ihrer direkten Beziehung
zum Problem des Standes der frei stehenden Skulptur. Seine
Arbeiten sind wie Stelen aufgerichtet, dem Stehen des Menschen
als Balanceakt zwischen Halt und Bewegung verwandt, ja ihn
in der Abstraktion und Reduzierung auf das Wesentliche übertreffend.
Sie halten sich im Schwebezustand zwischen dem empfindsamen
Gleichgewicht eines »Rühr mich nicht an« und
dem festen Stand des ~Mit beiden Beinen auf dem Boden<,
sie verharren - einmal aufgerichtet - in extremer und das
heißt idealer Position. Sie stehen, als sei das Stehen
ein einmaliges und überwältigendes Erlebnis, als
habe der Mensch sich eben erst von allen Vieren erhoben und
aufgerichtet. Sie sind Standbilder in des Wortes ursprüng
lichster Bedeutung: sie übertreffen alle ihre Vorbilder,
denen das Stehen Anlaß oder Thema der Figuration ist,
durch eine Reduktion auf das abstrakte Standmotiv, das in
ihnen zum Bild vom aufrechten Menschen sinnbildlich geworden
ist.
Witlatschils »Stände«, »Näherungen«
und »Rückfühmngen« tragen in sich die
Tradition dieser Vorbilder von den auf das Jenseits gerichteten,
den Göttern geweihten Kouroi vorklassischer Zeit bis
hin zu Barnett Newmans »Ich«-Metapher aus dem Geist
der reinen Form. Im Aufrichten und im Aufgerichtetsein wird
das Stehen und der ruhig gespannte Stand zum Erlebnis, Skulptur
und Betrachter bzw. Akteur finden in der Handlung des Aufrichtens
zusammen: das ist die neue Dimension des skulpturalen Erlebnisses,
die Michael Witlatschil der Skulptur mit seinen Arbeiten erobert
hat.
Während der Vorarbeiten zu diesem Katalog starb Marianne
Trautvetter, Vorstandsmitglied des Westfälischen Kunstvereins
und engagierte Freundin der Kunst. Der Erinnerung an ihre
Begeisterungsfähigkeit ist dieser Katalog gewidmet.