»Empfinden, Denken und Handeln, Erfahrungen mit der Skulptur
»Näherung A« von Michael Witlatschil«
Gerhard Mantz machte mich auf Michael Witlatschil aufmerksam,
er betonte die Nähe zu seinen Gemälden. Mantz malt
schwebende Farbraumkörper, Lanzette zumeist; ihre Existenz
rührt aus dem Wechsel und Austausch von Substanz und
Energie. Flirrende Farbsubstanz löst die Materie - Holz
und Farbe - aus ihrer Statik, energiegeladene Elemente entstehen;
es sind Kunstsubjekte.
Gerhard Mantz, der Maler Ludwig Arnold, Claudia Pohl und ich
fuhren in Michael Witlatschils damaliges Ettlinger Atelier.
Es war Gerhard Mantz' Schauraum nicht unähnlich: fast
leergeräumt und sehr weiß; ein freies Ambiente.
Auf einer Arbeitsplatte lagen Eisenstangen, das war's schon
fast.
1
Michael Witlatschil legte eine kleine handgroße Spiegelglasseheibe
in die Mitte des Raums, überprüfte ihre Festigkeit
auf dem Boden und ging dann zu den Stangen, nahm ruhig einen
der Vierkantstäbe, wischte ihn mit einem Lappen ab, wog
den schmalen Vierkant wie einen Speer und stellte sich dann
leicht breitbeinig vor die Spiegelscherbe: Er benötigte
wohl selbst etwas Standfestigkeit, um die schwere Stange aufzustellen.
Dies konnte kaum gut gehen, war das Metall doch lang und sehr
schmal, die Standfläche, daher gering. Während Michael
Witlatschil balancierte, war er sehr konzentriert; wir blieben
neugierig stehen, die Stille übertrug sich. Es klappte
nicht; er legte die Stange beiseite, verlagerte leicht den
Spiegel und begann erneut den Balanceakt. Es ging sehr rasch,
bis die Stange frei war, Michael Wirlatschil öffnete
abwartend die Hände, hielt sie schützend um die
Stange und entfernte sich dann selbstbewußt und entspannt
ein paar Schritte, zunächst die Stange abschätzend,
dann uns beobachtend.
Wir begannen ein mir später wohlbekanntes Ritual. Wir
bewegten uns zunächst nicht, wohl, um die Verbindung
zwischen Michael Witlatschil und dem Objekt nicht zu zerstören;
ich fragte dann, kopflastig, ob das Objekt frei stünde
und nach einem Kopfnicken konnte ich mich vorwärtstasten.
Wir waren vorsichtig, lange konnte die Stange so wohl nicht
stehen bleiben. Nun war das spitze Ding bedrohlich; aus einem
passiven Objekt, einem einfachen Vierkant, war ein selbständiges
Objekt geworden. Ich kam mir mutig vor, als ich erkunden wollte,
wie - und warum der Stahl dort ausharrte. Eher leise, Erschütterungen
vermeidend, gingen wir um das Objekt herum, kamen der neuen,
fremden Person näher; ich wollte schon darauf achten,
daß sie mich nicht erschlug, wenn sie umfiel. Es vergingen
gewiß drei, vier Minuten, in denen uns Michael Witlatschil
genau beobachtete. Tapfer konzentrierte ich mich nicht mehr
nach oben, auf die Spitze des Spießes, um zu erkennen,
wann der Stahl niederkam, sondern pendelte mit den Augen zwischen
Spieß und Fuß hin und her. Die Bewegungsarmut
durch den psychischen Druck kämpfte mit meiner Neugier,
sie wandelte sich nach und nach zum physischen Drang, das
Ding zu erobern. Meine Angst vor dem Umfallen, die ich auf
die Stange projizierte, wechselte mit Rationalisierungen:
warum kippte dieses Objekt, das ich bereits zu einer fremden
Person erhoben hatte, nicht? Warum gab es keinen Unfall?
Manchmal blickte ich hilfesuchend zu den anderen, ging es
ihnen ähnlich? Wir maßen uns mit dem schmalen,
langen Körper, gesellten uns vorsichtig ihm zu. Der mutige
Blick in die Spiegelplatte ließ mich eher erschrecken
als verwundern: der Stahl ging schräg nach innen, kippte
er? Wenn nicht, weil keiner warnend rief: wie konnte der Stahl
so schmal stehen? Ich ging wieder zurück, nun doch weniger
zögerlich und skeptisch, ich hatte das Bedrohende in
mir ausgelebt, es lag nicht an der Skulptur.
Das Objekt stand aus sich selbst heraus. Es fiel auch nicht
um, als nach einiger Zeit eine Straßenbahn in der Nähe
ihre Gleise zog; es ratterte, der Boden schütterte leicht,
der Stab blieb. Dies war, so schien mir, auch Michael Witlatschil
Bestätigung, daß sein Kunststück stand.
Minuten meiner Verunsicherung waren vorüber. Meine Angst
hatte mir einen Streich gespielt, ich hatte nach fremder Autorität
verlangt, um über das stehende Objekt Auskunft zu erhalten.
Damit hatte die Skulptur wenig zu tun, wenngleich die Aktion,
das Objekt aufzustellen, aufregend war. Doch erst die Vergewisserung
darüber, daß der Stahl fest blieb, hatte mich aus
der Passivität entlassen; staunend stellte ich nun Fragen,
bewegte mich frei um das Objekt, dessen Aura ich verstärkt
wahrnahm: Es war nicht mehr allein ein Stahlvierkant, um den
sich eine Aktion rankte, sondern eine Skulptur.
Michael Witlatschil zeigte uns ein weiteres Bildwerk. Es handelte
sich um eine Erweiterung des ersten Objekts, welches wir gesehen
und gespürt hatten. Aus »Ich« war jetzt ein
Paar geworden: »Näherung A (Abb. S. 56-59), zwei
gleich große Stäbe. Unten war der Vierkant so angesehrägt,
daß nach einer etwa fünf Zentimeter langen Schräge
ein Dreieck als schmale Basis entstand. Oben, in Überlebensgröße,
war die Abschrägung länger und wurde sehr spitz.
Die Skulptur stand rasch, obwohl sich die erste stehende Stange
gegen die zweite zu wehren schien, bis diese dann auch ihren
festen Stand bewies. Gerhard Mantz meinte, es handelte sich
um Abstoßungskräfte um die einzelne Stange herum.
Er betrachtete das Objekt dabei unter einem physikalischen
Aspekt, indem er wohl magnetische Kräfte bemerkte, zugleich
kam ihm gewiß auch menschliche Ausstrahlung - Wärme
oder Kälte -in den Sinn.
Eine dritte Skulptur wurde aufgestellt, nachdem unsere Neugier
sehr groß geworden war. Michael Witlatschil steckte
viele Stäbe ineinander, balancierte; er hatte Mühe,
ihr Gleichgewicht zu erzeugen. Ich hätte sie nie aufstellen
können, das schuf etwas Distanz.
Später zeigte er uns Fotos aller seiner Arbeiten. Wir
entschlossen uns, »Näherung A« zu kaufen, so
wenig dies vor dem Besuch in irgendeiner Weise beabsichtigt
war. Der Entschluß war spontan, für Claudia und
mich überraschend. Es kam ein Kasten hinzu, der die Arbeit
aufnahm, wenn sie nicht aufgebaut wurde, eine Woche später
wurde uns die Skulptur gebracht. Wie ein Zauberer vermochte
Michael Witlatschil die Arbeit binnen zwei Minuten zu erledigen,
verpackte die Skulptur wieder im Kasten und forderte Claudia
und mich auf, das Aufstellen zu proben, selbst aktiv zu werden:
als Besitzer müßten wir mit der Skulptur auch richtig
umgehen können.
Die Skulptur benötigt freien Umraum, um die Achsen ohne
Überschneidungen wirksam werden zu lassen, ferner muß
die Skulptur umschreitbar sein. In diesem Freiraum, der von
leeren, weißen Wänden umgeben ist, liegt die Spiegelglasscheibe
auf dem Fußboden, sie ist dort fremd. Von diesem Stellplatz
getrennt steht der Kasten, der schräg an der Wand lehnt.
Der Holzkasten ist mit Filz ausgelegt und kann mit vier Schrauben
verschlossen werden: eine magische Box. Selbst wenn der Kasten
geöffnet ist und man auf beide Stangen in ihrem Filzfutter
sehen kann, ist es kaum möglich, unbefangen Zusammenhänge
mit einer Skulptur herzustellen.
Es handelt sich um ein Arrangement, dessen Konzept verborgen
bleibt: es sind Dinge, Objekte in einem Haushalt der allerdings
Assoziationen an Kunst erleichtert. Dieser Zusammenhang mag
wiederum Neugier erwekken, aus der Scherbe einen Teil eines
möglichen künstlerischen Prozesses zu entwickeln.
Die Scherbe gewinnt eine geringe ästhetische Dimension,
indem sie aus ihrem Gebrauchszusammenhang gerissen wurde und
an einem fixierten Ort autonom lagert. Der Kasten ist ebenso
in geschlossenem Zustand ein geheimnisvolles Ding. Da es kein
Gebrauchsgegenstand sein kann, muß es sich um ein Kunstwerk
handeln, dessen Sinn sich aus der Erwartung ergibt, daß
ästhetische Handlungen vorstellbar sind. Das Geheimnis
entwickelt sich aus seinem bloßen Dasein. Die Tradition
läßt sich über Reinhard Muchas graue Kästen,
Timm Ulrichs Konzeptkunst bis zu Man Rays »Geheimnis
des Isidore Ducasse« (1920/21) und Marcel Duchamp zurückverfolgen.
Ist dort die Abneigung rationalistisch-mythisch, indem das
Werk durch seinen rituell-auratischen Charakter zum Kunstwerk
wird, so ist Michael Witlatschils »Objekt« Teil
einer Skulptur, die klassischen Kategorien Gerfüge leistet.
Doch entsteht zunächst aus dem bloßen Dasein der
Objekte ein Geheimnis.
Die Aufstellung der Skulptur beginnt mit der Suche nach einer
Basis. Die Glasplatte muß möglichst plan auf dem
flachen Boden liegen. Ob der Grund wirklich horizontal ist,
wird gefühlsmäßig erfahrbar; bewahrheiten
läßt sich dies erst, wenn - falls - die Skulptur
steht. Mm kann dem vorbeugen: eine flache Stelle wählen,
den Staub vom Boden entfernen, möglichst viele Punkte
finden, auf denen die Glasscheibe ruhen kann.
Danach wird eine der beiden Stangen aus dem Kasten herausgeholt.
Der Vorgang, die Stangen auf die Glasscheiben zu stellen,
kann experimentell gefunden werden, indem mm aus der sinnlosen
Verbindung des Kastens mit der Spiegelglasscheibe einen logischen
Zusammenhang mischen einem Bodenstück und einer instabilen
Stange herstellt. Es ist ein suchendes Vorgehen, das nicht
automatisch erkennbar ist. Wir haben diesen Zusammenhang freilich
immer zuvor erklärt; erst beim Schreiben kommt mir die
Idee, einmal Freunde die Skulptur »suchen« zu lassen.
Fest steht, daß die Teile logisch zueinanderpassen und
nicht austauschbar sind: Zwar kann ein Stab gewiß auf
einem stabilen Untergrund frei und ohne Glasscherbe stehen,
doch ist es unsinnig, die Scheibe auf dessen Spitze zu balancieren.
Die Stangen sind schwer und aufgrund ihrer Länge unhandlich
(210 cm hoch), man muß sie einzeln nehmen, man hält
den Vierkant fest in der Hund; besser ist, ihn mit beiden
Händen zu greifen. Das Gewicht einer Stange verstärkte
meine Mutmaßung, daß es schwierig würde,
sie zu stabilisieren, obwohl es wahrscheinlich physikalisch
nur eine geringe oder gar keine Rolle spielen mag. Aber das
weiß ich nicht, mir sind diese Gesetzmäßigkeiten
unbekannt (Allerdings wächst mit jedem Aufstellen die
Neugier, meine Erfahrungen naturwissenschaftlich erhärtet
und dokumentiert zu erhalten).
Ich versuchte das Gewicht abzuwägen, kam jedoch zu keinem,
für die Aufstellung sinnvollen Ergebnis. Dann stellte
ich mich breitbeinig vor die Glasscheibe und ließ die
Stange langsam und mit beiden Armen hinunter. Es erfordert
einige Übung, die Stange kurz vor der Scheibe so abzubrernsen,
daß sie nicht auf das Glas schlägt (dies ist mir
wiederholt passiert), dann suchte ich den Vierkant zu postieren.
Ich drehte die Stange hin und her, vermeinte, daß es
an den Unebenheiten des Bodens läge, daß sie nicht
stehenblieb, drehte weiter, kantete, verlagerte meine Füße
etwas, um selbst ruhig zu stehen, stellte sie sehr bewußt
sehr gerade auf. Es gelang mir nicht, nach zehn Minuten gab
ich auf.
Ich war zu aufgeregt, um die Kräfte zu spüren, die
sich in der Stange entwickelten. Nach und nach fand ich heraus,
was und wie sich der Stab bewegte und wie ich darauf zu reagieren
hatte - langsamer als Claudia, der es bald gelungen war. Überhaupt
wurde es für mich zur Überraschung, daß es
manchen unserer Freunde bereits beim ersten Versuch gelang,
beide Stangen zueinander passend aufzustellen; dies macht
mir bis heute Mühe. Woran das liegt, weiß ich nicht,
es hat freilich mit mir zu tun.
Nach einiger Übung ist es nicht so schwer, einen Vierkant
auf der Glasscheibe alleine zu lassen. Ich spüre nach
einigen kurzen Drehbewegungen das Dreieck, auf dem die Stange
fußt und wie sie dem Glas anzupassen ist; ja es gelang
mir schon einmal, die Stange ganz lotrecht zu halten, sie
auf die Scherbe niederzulassen und sie sofort freizugeben.
Man erfährt bald die Ränder des Dreiecks, indem
die Kanten gegen den Stab schlagen und man kann den Stab dadurch
auspendeln. In mir entstand eine Beziehung zum Material, zu
seiner Masse, dann auch zur Kraft, mit welcher der Stab zurückschlägt,
wenn er mit einer Kante gegen das Glas stößt: große
Energien werden erlebbar, werden haptisches, körperliches
Erlebnis.
Je ruhiger ich bin und gelassener, um so eher erhalte ich
das Gefühl, die Stange stabilisieren zu können.
Dann spüre ich, wie sich das Gleichgewichtsniveau im
Vierkant nach unten absenkt und dann pendelt die Stange nicht
mehr so weit zur Seite hin aus. Ich bemerkte das Phänomen,
daß sich die Kraft nach innen wendet, über den
Stahl verströmt und nicht in einigen Punkten am Rande
des Metalls ausschlägt. Dennoch scheinen die Kräfte
unmittelbarer und energischer zu werden. Je besser der Stab
ponderiert ist, umso kürzer und fester sind die Pendelbewegungen,
aus der dann die Ruhephase eingeleitet wird. Die Stange wirkt
dann nicht kraftlos, als sei sie allein den Händen und
der Instabilität ausgeliefert: als würde die Schwerkraft
gebündelt, punktiert, auf einen Punkt hin verstärkt
und damit auf den Standpunkt verlagert. Die Stange schlägt
nun aus, ohne ihren Schwergewichtspunkt zu verlassen, ja umgekehrt
ist es so, als wolle sie ihn fixieren, ihm nahekommen. Er
sackt spürbar nach unten ab, bis der Stab frei steht:
ruhig und gelassen trotz aller Beweglichkeit. Nun ist die
Skulptur frei. Die Blickkontrolle mit anderen Senkrechten
des Raums zeigt zwar anfangs elastische Schwankungen, aber
nach etwa zwanzig Sekunden ist das Metall dann vollends beruhigt,
ist stabil, scheint mit der Erde verwachsen. Aus der schwerfälligen
Masse (eigentlich dem Wortsinn entgegen: leicht fallend) der
Stange ist behende Energie geworden, die das Objekt ausstrahlt
und es von der Spitze bis zur Spiegelscheibe durchzieht.
Meine Gefühle gegenüber der eigenen Handlung sind
dem Aufbauen durch Michael Witlatschil geschieden. Ich muß
mich stärker konzentrieren, ruhig werden und auf das
Objekt samt seiner Physik achten. Es ist kein passives Zusehen,
es ist kein Machtproblern, eher eine entspannende Zwiesprache.
Die Freude am Aufstellen verdanke ich mehr der Sinnlichkeit
denn der beobachtenden Gewalt über ein Objekt. Ich kann
meine Wahrnehmungsgabe in Anspruch nehmen und bestätigen,
vielleicht ein Teil Naturbeherrschung angesichts der Schwergewichtskräfte
und ihrer sanften Stabilisierung. Autoritäres Gebahren
scheidet aus: man kann die Stange nicht zwingen, sich selbst
nicht zusammenreißen. Doch habe ich unterschiedlichste
Meinungen über die Standfähigkeit der Stangen gehört:
von der festen Überzeugung, daß der Stahl a priori
nicht stehen könne bis zur kindlichen Freude am Spiel.
Ein weitaus schwierigerer Teil des Aufbaus ist es, den zweiten
Stab hinzuzufügen: Hier kann ich bis heute die Kräfte
nicht so routiniert in den Griff bekommen, wie ich hoffte;
es bleibt der Reiz eines ungewissen Abenteuers.
Steht eine Stange, so hole ich die zweite ruhig aus dem Kasten,
noch immer in Angst, die erste könnte mir in den Rücken
fallen (einmal begann sie tatsächlich zu kippen, doch
fing sie ein Bekannter auf). Es beginnt nun ein etwas anderes
Spiel. Den zweiten Stahl aufzusetzen, ist bereits schwieriger,
denn leicht ist zu merken, daß dadurch die Spannung
am Fuß, auf der Glasscheibe, verlagert wird und sich
damit die Schwerkraftbedingungen der ersten Stange verändern:
sie muß sich anpassen, einen Teil ihres Territoriums
freigeben, ohne ihren eigenen Stand zu verlieren. Zudem werden
andere Kräfte und Faktoren eingebracht, indem beide Stangen
in ihren Kraftfeldern deckungsgleich werden und zu einem einheitlichen
ästhetischen Objekt zusammengefügt werden. Dies
bedeutet, beide Stangen möglichst nah beieinander auszurichten
und ihre Spitzen so gegeneinander zu stellen, daß ein
Pfeil oder eine Satteldachform entsteht.
Häufig fallen mir noch heute beide Stähle beim Aufstellen
gegeneinander; das erzeugt einen klingenden, doch fast drohenden
Ton, da die freien Schwingungen durch das stete Aneinanderstoßen
abgebrochen werden. Wichtig wird, beide Stangen auf der Glasplatte
frei zu postieren, ohne daß sie sich berühren und
sich, weit voneinander entfernt, fremd bleiben. Doch: Je distanzierter
sie stehen, umso leichter wird es, sie zusammenzustellen,
da ich mich lediglich auf eine Stange konzentriere und die
andere dennoch im Auge behalten kann. Allein ist dies nicht
das Ziel. Entscheidend wird die Anziehung beider Stäbe
zueinander und hierfür ist Konzentration auf die Schwankungen
beider Stähle notwendig.
Beim Aufstellen werden zunächst große Abstoßungskräfte
frei, welche die zweite Stange von der ersten abdrücken.
Ich habe dabei stets das Gefühl, daß der erste
Stahl verhindern möchte, daß der zweite in die
Senkrechte überführt wird: der eine möchte
den anderen labil halten, gönnt dem anderen die Selbständigkeit
nicht. Aber vielleicht liegt dies allein an mir. Jedenfalls
ist für mich in dieser Phase der schwierigste Teil der
Aufstellung erreicht. Es sind aufregende Momente, die Abstoßungskräfte
so fein zu überwinden, daß sich die Kraftfelder
annähern, und die Stangen zu einem Objekt, zu einem Paar
zusammenfinden.
Bisweilen stoßen die Spitzen auch aneinander, wenn der
zweite Stab auspendelt, ohne daß die freistehende
Stange umfällt (ein für mich eigenartiges Phänomen,
wobei der freie Stahl den Konflikt besteht und den anderen
stützt, ohne selbst aus dem Gleichgewicht zu geraten;
aber vielleicht wachsen die Kräfte, wenn ein Konflikt
ausgehalten wird). Es entwickelt sich ein deutliches Vibrieren
der zweiten Stange, wenn sie der ersten nahe genug kommt,
als würden die Kräfte gegeneinander wirksam. Umso
erfreulicher ist das Gefühl, wenn beide Stäbe endlich
fest stehen; es ist ein spürbares Ergebnis einer sinnvollen
Aufgabe. Das Objekt steht dann wirklich, ist selbständig
und hinterläßt einen unberührten Eindruck.
Als Claudia und ich den Aufbau zum ersten Mal beendet hatten,
haben wir es fotografisch dokumentiert; dies haben wir bei
Freunden ebenso gehalten, indem wir uns - jeder für sich
- dem gerade geschaffenen Werk zugesellten. Etwas seltsam
scheint mir dieser Stolz schon zu sein, denn ich komme mir
dann vor wie ein Tourist vor dem schiefen Turm von Pisa.
IV
Die Skulptur besteht aus Stahl und Glas. Es ist ein extrem
sprödes, brüchiges, doch transparentes Material,
das mit seinem direkten Gegensatz kor respondiert:
stabil, elastisch, undurchlässig. Glas und Stahl sind
ein Inbegriff moderner Ideologie.
Es sind Vierkantstäbe industrieller Fertigung, die Michael
Witlatschil oben und unten unterschiedlich abgeschrägt
hat, ohne daß dadurch der technische Charakter verlorenginge:
ein vorgefertigtes, artifiziefles Produkt. Die durchaus massive
Spiegelglasscheibe ist in ihrem Umriß unregelmäßig.
Sie ist längst verbraucht, weggeworfen; gefunden für
eine dadaistische Verfremdung. Ist der Stahl durch den Künstler
ästhetisch gestaltet, so wirkt die Glasscheibe eher amorph,
naturähnlich.
Die Farbigkeit der Skulptur ist grau. Dunkel ist der Stahl,
dessen Schmalseiten hell, poliert sind und gegen das Matt
einen Kontrast entwickeln. Die Polierung ergibt einen Spiegeleffekt
ähnlich der Glasscheibe: das Material wird illusionistisch.
Durch die stählem-reflektierenden Seiten werden die Begrenzungen
der Vierkantstäbe zwar nicht aufgehoben, doch ist ihre
Länge nicht mehr so bewußt vorherrschend; ihre
Lebendigkeit öffnet sie nach oben und nach unten.
Die Skulptur ist schmal und hoch, doch verläßt
sie nicht den Maßstab körperhaften Denkens; sie
ist auf den Menschen bezogen.
Die-Skulptur ist einfach. Der traditionelle Sockel, Garant
für stabile Verhältnisse und monumentalen Anspruch,
ist einer Glasscheibe gewichen. Sie wirkt wie ein Naturersatz.
Gewiß, Glas ist ein Naturprodukt, doch ist es nicht
die Erde selbst, auf der die Skulptur steht. Zudem wird durch
den Spiegel die Illusion betont. Blickt man in ihn, versinkt
die Skulptur in die Tiefe. Dadurch wird der Aspekt des Sockels
in Frage gestellt; ohnehin vertuscht er anscheinend die Befestigung,
die man dann erwarten könnte, wenn man den Aufbau nicht
mitvollzogen hat: sie müßte dann doch verzapft
oder verdübelt sein, um stehen zu können. Dies wird
dann durch die Glasscheibe verdeckt: Alles ist Illusion.
Der Sockel genügt als Standort, doch verweigert er einen
Teil seiner Ideologie. Er ist überall verwendbar, entwurzelt,
flexibel, austauschbar, ist nicht die solide Basis, die man
sich wünscht; dies wird durch den schmalen Stand verstärkt.
Der Stahl ruht graziös. Der geschlossene Umriß
und die obere Abschrägung fördern die Einheitlichkeit
der anfragenden Skulptur, welche die Autonomie der Elemente
vorderhand hinter sich läßt. Das Bildwerk zielt
auf tektonische Körperlichkeit, so labil das Gleichgewicht
scheint, so unangreifbar dieser Körper ist und damit
das haptische Moment in Frage gestellt wird (Dies trifft auf
den Benutzer der Skulptur nicht zu).
V
Diese Beschreibung ist bereits ein zweiter Aspekt der Aneignung.
Die Gestaltassoziationen entstehen nach dem aktionistischen
Teil. Es kommt hinzu, daß ich Konsthistoriker bin und
ich versuchte, mir durch den Griff in die Kunstgeschichte
darüber Gewißheit zu verschaffen, daß die
Skulptur auch deswegen »Wert« erhält, daß
es zwischen dem Werk Michael Witlatschils und der Geschichte
der Kunst Verbindungen gibt. Daß dies zum einen eine
Binsenweisheit, zum anderen eigene Legitimation war, davon
später.
Man mag an antike griechische Kuroi, Standfiguren denken,
auch an Auguste Rodins »L'homme qui marche« aus
der Zeit kurz nach 1900, jedenfalls an eine zweibeinige Gestalt
oder an Architektur, etwa an das »World Trade Center«
in New York. Doch ist dies nur ein Teil des Konzepts: weder
ist die Skulptur tektonisch noch architektonisch-bildhaft.
Wenn ich allein diese Assoziationen bestätigte, hieße
dies, mir selbst die Aktionsfähigkeit abzusprechen: statisch
zu werden, Bilder festzuzurren, formal zu denken und zu handeln.
Ein weiterer Aspekt der Kunstgeschichte käme dennoch
in Betracht. Die Stangen verhalten sich entgegen dem System
des architektonischen Stahlskeletts, so assoziativ das Wort
wirken mag; es bleibt illusionistisch. Das Smülskelett
ist trotz inaterialbedingter Flexibilität passiv. »NäherungA«
hat mit Architektur neben der Form lediglich Raumvorstellungen
gemein. Die Einzelfornten mögen sich assoziativ-dekorativ
annähern; das sei mir zugestanden, nicht aber unbedingt
der Skulptur. Gewiß ist auch die Frage nach dem Ort
und Raum wichtig, in dem die Skulptur zwar von allen Seiten
aus umschreitbar, frei ist, auch meldet sie einen hohen Anspruch
an ihr Umfeld an, doch kommuniziert sie nicht bildhaft, womit
die Gestaltassoziationen fehlgehen: eben nicht ein Torso,
eben keine traditionelle Standfigur. Sie hat den freien Raum
als notwendige Ergänzung für ihre Form, aber sie
verwächst nicht mit der Umgebung. Sie ist sich allein
zugeneigt, bezieht ihre Ausstrahlung aus der eigenen Körperlichkeit.
Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: Sie benötigt
ein möglichst freies Umfeld, doch ist ihre Ausdehnung
auf jenes ideelle Maß beschränkt, welches die Glasscheibe
zugesteht. Hier liegt ihre unangreifbare Umgebung, zu der
der freie Blick fern von störenden linearen Achsen hinzukommt.
Durch die Glasplatte und die Stähle entsteht Spannung
um die lapidare Form herum. Diese Elastizität wird zur
ausstrahlenden Energie. Aus der technischen Gestalt wird Körperlichkeit
gewonnen. Hierdurch verbinden sich die beiden Stäbe zu
einer Skulptur; aus dem geringen, doch vollen Volumen des
Stahls, dessen Gewicht spürbar bleibt, wird Plastizität:
das Vermögen, sich selbständig auszudehnen, sich
zu bewegen. Die Plastizität zielt auf die Selbständigkeit
und Einheitlichkeit des bildhauerischen Körpers, der
aus der Metallmasse und seinen Zwischenräumen Energien
ausstrahlt. Sie sind am stehenden Gesamtkörper spürbar,
nicht nur beim Aufstellen erlebt man die gebündelten
Kräfte beider Stangen. Assoziiert man eine menschliche
Gestalt, kann man den Eindruck einer homogenen klassischen
Skulptur gewinnen. Durch den aktionistischen Aufbau ist jedoch
bewußt, daß diese Einheitlichkeit erst durch die
Eigenständigkeit beider Objektkörper hervorgerufen
wird. Damit wird die Gestaltassoziation in andere Bahnen gelenkt.
Aus der Geschichte der Skulptur ziehe ich jene Formen vor,
in der die erzählerischen Elemente zugunsten einer dynamisierten
Erfahrung ersetzt werden und zugleich die vorgebliche Einheitlichkeit
von Erzählung und Erfahrung aufgegeben worden ist. Mit
ihr verschwinden hieratische Anschauungen, die aus einer wie
auch immer vorbestimmten Objektivität vorgegeben werden;
an ihre Stelle tritt die Subjektivität aller Erfahrungen.
Das Individuum eignet sich die Welt nach eigenem Maßstab
an, dies sollte auch mein Ziel werden.
Ich weiß von »dynamischen« Skulpturen, um
die Aktivierung von Betrachter und Bildwerk etwa bei Constantin
Brancusis »Vogel im Raum 1923,
VI
Ich näherte mich der Skulptur zunächst passiv als
Betrachter, ich habe dies als autoritäre Handlung erlebt.
Durch den Aufbau, den ich selbst vollzog, wurde ich aktiv
und fühlte eine Entspannung. Dieser subjektiven, privaten
Aneignung folgte die kunsthistorische Vergewisserung. Ich
hatte Assoziationen, die sich an der Körperlichkeit festmachten.
Es lassen sich stilistische Vergleiche fixieren, deren didaktische
Einschätzung jedoch dann fehlgehen muß, wenn ich
allein optisch - und damit stilistisch - argumentiert hätte,
denn diese Ebene ist formal. Die Skulptur muß diese
Vergleiche zulassen, erst durch die persönliche Aneignung
wird ein reflektives und sinnliches Erleben möglich,
das einem autonomen Kunstwerk nicht entspricht. Das haptische
Erleben eines Werks erhält eine neue Dimension.
VII
Die Aufstellung der Skulptur in einer Ausstellung ohne Bewußtmachung
dieser ästhetischen Erfahrung entspricht unserer
Rezeptionstradition. Sie ist, wie man sehen kann, nicht vollständig,
da sie unsere Erfahrungen als homogene Wahrnehmung benennen
möchte. Optische Erfahrung ist reduzierte Erfahrung,
entspricht jedoch unseren gesellschaftlichen Signalments am
stärksten. Die Kenntnis der Aufbauerfahrung und die Bewußtwerdung
des freien Standes können museal nicht vermittelt werden.
Museal wird doppelbödig, indem die säkularisierte
Aura des autonomen Kunstwerks die Sinne schleift und abstumpfen
läßt. Arbeit und Produkt, Erfahrung und Besitz
werden voneinander getrennt. Unsere ästhetische Kultur
zementiert in diesem Fall Michael Witlatschils Skulptur zu
einem Produkt, dessen statische Basis das museale Umfeld ist.
Die Entfremdung in den Arbeitsprozessen und - ihr folgend
- in der ästhetischen Aneignung sind Teil unserer Kultur.
Michael Witlatschils Werke stellen diesen Kulturbegriff
in Frage.
Der Bildhauer aktiviert die ästhetische Aneignung des
Kunstwerks, indem der Rezipient die Aufforderung erhält,
die Skulptur selbst aufzustellen. Bis dahin sind es für
den Benutzer zwei Stahlstangen, die handwerklich bearbeitet
sind. Die entscheidende Wichtigkeit dieser Bearbeitung bleibt
verborgen, bis der Nutzer nach dem Aufstellen über das
Gesehene und Gefühlte reflektiert. Die sinnenhafte Bewußtwerdung
ist ein Aspekt der Reflektion über aktuelle Skulptur,
die nicht affirmativ sein will. Hier gibt es Parallelen zu
Franz Erhard Walter und zu Wolfgang Nestler. Der Betrachter
von Kunst wird zu ihrem Benutzer, ohne den die ästhetische
Produktion sinnlos wäre. Die Verzahnung zwischen Künstler,
Objekt und Rezipienten ist kunstimmanent und reflektiv, sie
umfaßt den subjektiven Bereich der Aneignung. Der bei
Beuys angesprochene objektive Bereich kunsthistorischer Praxis
ist nicht unmittelbarer Teil der Aktion. Hier ist über
die Frage nach der Basis und über den Umraum der Skulptur
zu diskutieren, denn die Skulptur ist an jedem Ort frei nutzbar,
wenn der Kunstbetrachter zur Handlung motiviert werden kann.
Dies wäre ein Teil der Aneignung, zu dem nicht unbedingt
der Künstler selbst zur Stelle sein muß; ein Didaktiker
kann hier vermitteln, ohne daß ein berufsspezifisches
ästhetisches Handeln gefragt wäre.
Michael Witlatschils Skulptur betont durch ihre Sinnlichkeit
die Komplexität von Erfahrung und stellt somit unsere
Entfremdung in Frage. Sie wird zu einem Gegenüber, über
dessen Energien man selbst Kraft gewinnen kann. Es sind nicht
die flirrenden Farbraumkörper von Gerhard Mantz, der
mir Michael Witlatschil empfahl; ihre Energie bezieht diese
Skulptur aus der Schwer- und Fliehkraft. Es handelt sich nicht
um einen technischen Apparat, es ist Kunst. »Danach wäre
der reine Begriff von Kunst nicht der Umfang eines ein für
allemal gesicherten Bereichs, sondern stellte jeweils erst
sich her, in augenblicklicher und zerbrechlicher Balance,
der psychologischen von Ich und Es mehr als nur zu vergleichen.
Der Prozeß des sich Abstoßens muß immerwährend
sich erneuern. Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene
ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der
es dem beharrlichen Auge sich offenbart. Sind die Kunstwerke
Antworten auf ihre eigene Frage, so werden sie dadurch selber
erst recht zu Fragen« (Theodor W. Adorno: Ästhetische
Theorie. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt 1970). Was mehr?
Hier wäre ein Ansatz zum Handeln und vielleicht sind
die Voraussetzungen durch die Beschäftigung mit >Näherung
A« von Michael Witlatschil günstiger geworden: Empfinden,
Denken und Handeln könnten vielleicht einmal gemeinsam
auftreten, wo auch immer.